Am Dienstag, den 6.5.25 fand der erste der drei Stadtspaziergänge zum Thema “An wen wollen wir erinnern? Frauen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Antisemitismus und öffentliches Gedenken” statt. An dem Stadtspaziergang in Karlshorst gab es großes Interesse. Mit einer Gruppe von gut 20 Personen waren wir im Kiez unterwegs und erfuhren einiges über antifaschistischen Widerstand von Frauen in Karlshorst, einer zu der Zeit nationalkonservativ geprägten Nachbar*innenschaft, über Zwangsarbeit sowie über Straßennamen mit antisemitischen Bezügen. Aufgrund der Teilnahmebegrenzung konnten leider nicht alle angemeldeten Personen mitkommen, sodass wir hoffen, den Spaziergang in der Zukunft für weitere Interessierte wiederholen zu können.
Waldowallee
Die Führung in Karlshorst begann in der Waldowallee. Die Waldowallee wird im Dossier „Straßen- und Platznamen mit antisemitischen Bezügen in Berlin“ aufgeführt, das 2021 von Dr. Felix Sassmannshausen verfasst und vom Ansprechpartner des Landes Berlin zum Thema Antisemitismus in Auftrag gegeben worden war. Benannt ist die Straße nach dem Juristen, Verwaltungsbeamten und Politiker Hans August Wilhelm von Waldow (1856-1937). Im Dossier steht zu von Waldow: „Von Waldow war Vorsitzender des Landesverbandes Mecklenburg-Strelitz der antisemitischen Deutschnationalen Volkspartei. Von 1923 bis 1932 war er für die DNVP Abgeordneter im Mecklenburgischen Landtag.“ Weitere Straßen hier im Viertel weisen ebenfalls antisemitische Bezüge auf: Die Dönhoffstraße ist benannt nach August Graf von Dönhoff (1845-1920). Dieser war Ende des 19. Jahrhunderts Reichstagsabgeordneter der antisemitischen Deutschkonservativen Partei und war 1917 Mitbegründer der antisemitischen und rechtsextremen Deutschen Vaterlandspartei. Die Oskarstraße ist nach dem Militärhistoriker, Soldaten und fünften Sohn des Deutschen Kaisers Wilhelm II, Oskar von Preußen (1888-1958) benannt. Der Prinz von Preußen war wie von Waldow Mitglied der antisemitischen Deutschnationalen Volkspartei und in dem ebenfalls antisemitischen Stahlhelm und im Bund der Frontsoldaten. Im 2. Weltkrieg fungierte von Preußen zeitweise als Oberst und kommandierte das Infanterieregiment.
Die Walküren- und die Tannhäuserstraße sind nach Opern Richard Wagners benannt. Richard Wagner war überzeugter Antisemit und Hitlers Lieblingskomponist. Wagners Ehefrau Cosima unterstützte den Antisemitismus ihres Mannes. Ihre Schwiegertochter Winifred unterstützte dies ebenso und verhalf Hitler zu Treffen mit Intellektuellen und Großindustriellen.
Hentigstraße 20: Wohnhaus von Margarete Neumann
Von der Waldowallee machten wir uns auf den Weg in die Hentigstraße 20. Hier lebte die Schneiderin und Arbeitersportlerin Margarete Neumann (*1898-?) seit Mitte der 1940er Jahre. Nach der Machtübertragung beteiligte sie sich bei der Verbreitung illegaler Schriften. Bereits im September 1933 wurde Neumann erstmals verhaftet und im berüchtigten Konzentrationslager Columbiahaus in Tempelhof inhaftiert und dort vermutlich misshandelt. Vermutlich lernte sie dort Karl Schulze-Iburg kennen, den sie im April 1945 nach seiner Flucht von der Front bei sich in der Wohnung in Karlshorst versteckte. Er berichtete darüber: „Es gelang mir, zu desertieren. ln Berlin-Karlshorst nahm mich Margarete Neumann auf, die mich von Anfang April verbarg und versorgte, bis am 23. April die Rote Armee meiner heiklen Situation ein Ende machte.”[1]
Hönower Straße/Sokratesweg: NS-Zwangsarbeit
Die nächste Station befand sich in der Hönower Straße und beschäftigte sich mit dem Thema Zwangsarbeit. In der Hönower Straße auf der Höhe Sokratesweg befand sich während des Zweiten Weltkriegs eines von über 3000 Berliner Zwangsarbeitslager für zwei Firmen: die Butzke Werke AG und das Ernst Winkler Stanz-Zieh und Prägewerk. 544 Männer und Frauen aus Italien, Polen und der damaligen Sowjetunion waren hier untergebracht.
Von 1938 bis 1945 mussten etwa 13 Millionen Menschen aus fast allen Teilen Europas Zwangsarbeit in der deutschen Kriegswirtschaft leisten. Von weiteren 13 Millionen Zwangsarbeitenden in den von den Deutschen besetzten Gebieten geht die Forschung aus. Zu den ersten Gruppen gehörten Deutsche: Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma sowie als „asozial“ stigmatisierte Personen. Nach Kriegsbeginn folgten Zwangsarbeitende aus den besetzten Gebieten. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion stieg die Anzahl drastisch an und Zwangsarbeit gehörte als Massenphänomen zum Kriegsalltag der Deutschen. 1944 war jeder fünfte Arbeitnehmer in der deutschen Kriegswirtschaft ein:e Zwangsarbeiter:in.
In Berlin mussten etwa 600.000 Menschen Zwangsarbeit in den unterschiedlichsten Wirtschaftsbereichen leisten: Rüstungsproduktion, Lebensmittelbetriebe, Beseitigung von Kriegsschäden, in Privathaushalten.
Die Lebensbedingungen von zivilen Zwangsarbeitenden unterschieden sich nach der Herkunft und Geschlecht. Westeuropäer:innen waren etwas besser gestellt als Osteuropäer:innen, welche nach der NS-Ideologie als „Untermenschen“ und damit weniger lebenswert galten. So bekamen die einen etwas mehr Gehalt und durften ihre Lager außerhalb der Arbeitszeiten häufig frei verlassen, während die anderen weniger Gehalt bekamen und die Lager meistens nicht verlassen durften, keinen Hobbys nachgehen durften und mehr Diskriminierung ausgesetzt waren. Frauen waren den gleichen Bedingungen ausgesetzt wie Männer, doch unterlagen sie auch geschlechterspezifischer Gewalt durch sexuelle Übergriffe durch u.a. Wachpersonal. Weil ihre Arbeitskraft weniger galt, erhielten sie auch weniger Gehalt als Männer.
In Karlshorst befanden sich neben diesem Lager weitere, so auch das Arbeitserziehungslager Wuhlheide, ein „Konzentrationslager“ für Zwangsarbeitende.
In der Datenbank über Berliner Zwangsarbeitslager des NS Dokumentationszentrums in Schöneweide sind alle bisher ermittelten Standorte dokumentiert: https://www.ns-zwangsarbeit.de/de/recherche/lagerdatenbank/
Familie Coppi
Nach den antifaschistischen Widerstandskämpfer*innen Hans und Hilde Coppi ist in Karlshorst eine Straße sowie eine Schule benannt. Die Mutter von Hans Coppi, Frieda Coppi wohnte seit Beginn der 1950er Jahre mit ihrem Mann und Enkelsohn Hans Coppi in Karlshorst und arbeitete an der Hochschule für Ökonomie und Wirtschaft als Studentenbetreuerin. Frieda Coppi war Kommunistin. Während des Nationalsozialismus war auch sie in Widerstandstätigkeiten involviert. Sie betrieb eine Eisdiele in Tegel, die als geheimer Treffpunkt von Widerständigen diente. Über ihren Sohn Hans und ihre Schwiegertochter Hilde Coppi hatte Frieda Verbindungen zur Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“. Nach dem Aufdecken der Gruppe wurde auch Frieda Coppi im September 1942 festgenommen und im Polizeigefängnis am Alexanderplatz inhaftiert, kam aber kurz darauf wieder frei. Nach ihrer Freilassung kümmerte sie sich um ihren inhaftierten Sohn und ihre Schwiegertochter, ebenso wie um Hedwig Raasch, die kranke Mutter von Hilde Coppi. Nach der Ermordung ihrer Schwiegertochter Hilde durch die Nazis im August 1943 soll Frieda Coppi ihren Enkelsohn Hans zu Hedwig Raasch gebracht haben. Nach deren Tod 1944 bis Kriegsende soll sie ihn dann bei Freunden in Lehnitz bei Oranienburg in Brandenburg versteckt haben. Nach Kriegsende nahm sie ihren Enkel zu sich.
Junker-Jörg-Straße 16: Wohnhaus von Else Runge
Gemeinsam gingen wir weiter in die Junker-Jörg-Straße. Auch die Junker-Jörg-Straße weist nach dem Dossier von Sassmanshausen von 2021 antisemitische Bezüge auf. Junker Jörg war ein Pseudonym des Theologen und Reformators Martin Luther. Luther vertrat und verbreitete in seinen Schriften antijüdische Thesen „[…] und war prägend für die weite Verbreitung des christlich motivierten Antijudaismus.“[2] In Berlin sind insgesamt elf Straßen nach Martin Luther benannt sind, und das, obwohl Mehrfachbenennungen im Sinne der einfachen Orientierung in der Stadt vermieden werden sollen.
In der Junker-Jörg-Straße 16 wohnten bis 1933 Käte Duncker, geb. Döll (1871-1953) und ihr Ehemann Hermann. Die sozialistische Politikerin, Lehrerin und Vertreterin der proletarischen Frauenbewegung war Mitglied im Spartakusbund und gehörte mit ihrem Mann zu den Mitbegründern der KPD. Seit 1944 lebte auch die Stenotypistin, Arbeitersportlerin und Kommunistin Else Runge, geb. Hoffmann (1903-1972), mit ihrem Mann Kurt und ihrer Tochter Hildegard, die 1932 geboren wurde, in diesem Haus. Ihr Mann, mit dem sie seit 1925 verheiratet war, wurde 1941 als Sanitäter in Italien eingezogen und unterstützte dort italienische Partisan:innen mit Waffen und Verbandsmaterial. Seit 1940 arbeitete Else Runge als Angestellte in den Pertrix-Werken in Oberschöneweide und gründete dort mit Kollegen eine Widerstandsgruppe. Sie war die einzige Frau in der Gruppe. In den Pertrix-Werken wurden Batterien für die Wehrmacht hergestellt. Sie übermittelte Nachrichten an französische Kriegsgefangene, die als Zwangsarbeiter bei Pertrix eingesetzt wurden. In ihrer Wohnung in der Junker-Jörg-Straße fanden geheime Treffen der Widerstandsgruppe mit anderen Widerständigen statt. Die Treffen sicherte ihre kleine Tochter Hildegard ab, indem sie die Gegend beobachtete und „Schmiere“ stand, wie Ursel Hochmuth, Tochter von der Hamburger Widerstandskämpferin Katharina Jacob (1907-1989), in einem Buch über Widerstandsgruppe Saefkow-Bästlein schrieb. Runge versteckte auch Verfolgte in ihrer Wohnung, darunter den kommunistischen Funktionär Franz Jacob, Ehemann von Katharina Jacob. Als eine nicht eingeweihte Verwandte spontan auftauchte, versteckte Hildegard Franz Jacob schnell in einem anderen Zimmer.
Nachdem ihre Kollegen im Sommer 1944 verhaftet wurden, blieben Else Runges Tätigkeiten unbekannt. Bis Kriegsende unterstützte sie Verfolgte. Nach Kriegsende arbeitete Runge als Sachbearbeiterin für das Zentralkomitee der SED, ab 1961 als Sachbearbeiterin in einem Volksbetrieb zur Herstellung von Hochspannungsgeräten und Kabel in Karlshorst. Katharina Jacob lebte mit ihren beiden Töchtern in Hamburg, besuchte aber in den 1940er Jahren ihren nun illegal lebenden Mann Franz Jacob mehrfach in Berlin, vermutlich auch hier bei Else Runge. Nach der Verhaftung ihres Mannes wurde auch sie verhaftet und bis zur Befreiung im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück inhaftiert.
Gundelfinger Straße 6a: Wohnhaus von Helga Weckerling
In der Gundelfinger Straße lebte die Christin Helga Weckerling, geb. Zimmermann (1920-1993). Sie stammte aus einer bürgerlichen, national-konservativ geprägten christlichen Familie, studierte Theologie in Berlin und leitete danach einen Mädchenkreis der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche. Darunter waren auch Mädchen, die nach den nationalsozialistischen Nürnberger Rassegesetzte als jüdisch galten und verfolgt wurden. Weckerling unterstützte sie und versuchte, sie zu schützen. 1937 wurde sie zur ersten Pastorin der Bekennenden Kirche ernannt, durfte aber nur Frauendienste machen. Sie berichtete 1984: „Mein Vater war 1914 gefallen. Meine Mutter gehörte dem Deutschen Offiziersbund an und der Deutschnationalen Volkspartei. Also genoß ich eine deutsch-nationale Erziehung. Ich wuchs darum ganz ohne – absolut ohne pazifistische Vorstellungen auf. Ich war kein Pazifist und hatte große Mühe mit mir, es später zu werden. Ebenso muß ich ehrlich bekennen, daß ich in der Judenfrage sehr viel zu lernen hatte; denn wir waren auch antisemitisch erzogen worden. Und ich mußte langsam, Schritt für Schritt, zunächst einmal umdenken. Eigentlich lernte ich erst in meinem Kreis* mit getauften jüdischen Mädchen, was es heißt, ein Christ zu sein, und daß die ,Rasse’ dabei keine Rolle spielt. Anfangs fiel mir das noch ziemlich schwer, weil ich ganz anders erzogen worden war.”[3]
Zum Abschluss wurden die von der Grafikerin und Illustratorin Fritzi Jarmatz gestalteten Postkarten zu widerständigen Frauen gegen den Nationalsozialismus in Lichtenberg an die Teilnehmenden verteilt und Interessierte konnten sich Informationsmaterial über Straßennamen mit antisemitischen Bezügen mitnehmen.
Quellen und Lesehinweise
- Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Friedrichshain und Lichtenberg.
- Ursel Hochmuth: Illegale KPD und freies Deutschland
- Antifaschistinnen aus Anstand – Digitales Projekt zur Erinnerung an Berliner Widerstandskämpferinnen: frauen-im-widerstand.de
[1] Sandvoß, Hans-Rainer: Widerstand in Friedrichshain und Lichtenberg. Bd. 11 der Schriftenreihe über den Widerstand in Berlin von 1933 bis 1945. Hrsg. Gedenkstätte Deutscher Widerstand. (Berlin) 1998
[2] Sassmannshausen 2021
[3] Hans-Rainer Sandvoß: Widerstand in Friedrichshain und Lichtenberg.